Szene 9

1. Teil: Hauptmann und Doktor
Der Hauptmann drückt sich, als er den Doktor trifft, scherzhaft aus: „Herr Doctor, die Pferde machen mir ganz Angst; wenn ich denke, daß die armen Bestien zu Fuß gehn müssen. Rennen Sie nicht so. Rudern Sie mit Ihrem Stock nicht so in der Luft. Sie hetzen sich ja hinter dem Tod drein. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, geht nicht so schnell. Ein guter Mensch.“ (S. 23). Wie bereits in der 5. Szene kommt auch am Anfang der neunten Szene die Abneigung des Hauptmanns gegenüber Hektik zum Ausdruck. Er ermahnt den Doktor, nicht so zu „rennen“ (S. 23). Weiterhin beginnt der Hauptmann, wieder von sich zu reden. Der von sich selbst eingenommene, sentimentale Hauptmann berichtet dem Doktor von seiner Schwermut und dass er „immer weinen [muss], wenn [er seinen] Rock an der Wand hängen“ sieht (S. 23).

Der Doktor stellt dann eine ironische und scharfzüngige Diagnose in Bezug auf die Schwermut des Hauptmanns: „Ja Herr Hauptmann sie können eine apoplexia erebralis kriechen, sie können sie aber vielleicht auch nur auf der einen Seite bekommen, und dann auf der einen gelähmt seyn, oder aber sie können im besten Fall geistig gelähmt werden und nur fort vegetiren…“ (S. 24).

In der sarkastischen Antwort des Doktors liegen weitere Elemente. Erstens bekommt der Leser eine physische Beschreibung des Hauptmanns – „aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplectische Constitution“ (S. 24). Zweitens wird deutlich, dass der Doktor sich über den Hauptmann lustig macht und keinen Respekt ihm gegenüber hat. Damit lässt die Antwort des Doktors erkennen, dass er einen höheren gesellschaftlichen Rang als der Hauptmann innehat und dass er sich leisten kann, sich über ihn zu amüsieren. Außerdem werden die Rationalität des Doktors und auch sein vorherrschendes Interesse an der Wissenschaft verdeutlicht: „[…] apoplexia cerebralis […] Übrigens kann ich Sie versichern, daß Sie einen von den interessanten Fällen abgeben und wenn Gott will, daß ihre Zunge zum Theil gelähmt wird, so machen wir die unsterblichsten Experimente.“ (S. 24).

Der Hauptmann und der Doktor tauschen nachfolgend in dieser Szene gegenseitige ironische Komplimente und Scherze untereinander aus, welche zeigen, dass die beiden sich nicht sonderlich mögen. Der Doktor bezeichnet den Hauptmann als „Hohlkopf“ und als „Herr Exerzirnagel“, und der Hauptmann den Doktor als einfältig und als „Herr Sargnagel“ (S. 24). Beide versuchen, die gegenseitigen Schwächen oder Nachteile aufzudecken. Unter einem scheinbaren höflichen Umgang spiegelt ihr spöttischer Dialog eine zynische Haltung wider.

Aus dem gesamten ersten Teil der Szene geht hervor, dass der Hauptmann und der Doktor sich nicht gerade sympathisch finden. Das ist jedoch nicht das Einzige, das den Konflikt zwischen den beiden anheizt. Die Eigenschaften der beiden Figuren sind sehr unterschiedlich. Der Doktor scheint nicht sonderlich an seinen Mitmenschen interessiert zu sein, außer sie dienen ihm als Versuchsobjekte (S. 24). Der Hauptmann ist sehr emotional. Wissenschaft und Forschung scheinen ihn sogar zu verängstigen: „Herr Doktor erschrecken Sie mich nicht…“ (S. 24).

Der Hauptmann redet nur über sich und ist auch weiterhin in seiner ichbezogenen Welt gefangen und auch der Doktor hält an seiner von medizinischen Fachausdrücken geprägten Redeweise fest. Beiden machen sich übereinander lustig und versuchen, sich gegenseitig zu demütigen (S. 24). Es zeigt sich, dass nicht nur Woyzeck unter den Demütigungen der Obrigkeit zu leiden hat, sondern dass auch der Hauptmann und der Doktor (als Repräsentanten für die oberen sozialen Schichten) versuchen, das eigene Ego durch Erniedrigung anderer zu bestätigen. Der Hauptmann und der Doktor erweisen sich als Konkurrenten, bei denen nur von einem unbedeutend kleinen Rangunterschied gesprochen werden kann

Quelle : Lektürehilfe