Liebe "zoe249",
auf die "Schnelle":
Kant hatte sich wie alle Erkenntnistheoretiker mit jener Grundfrage des Denkens beschäftigt, die uns auch heute immer wieder beschäftigen sollte: In welchem Verhältnis stehen Empirie (also die Erkenntnis, die wir aus der Erfahrung mit unseren Sinnen machen) und Rationalität (also die Erkenntnis, die wir aus der nicht-empirischen Erfahrung mit unsrem Verstand machen)? Beispiele für empirische Wissenschaften sind z.B. alle Naturwissenschaften. Nicht-empirische Wissenschaften sind Mathematik(!) und Philosophie. In Kants berühmtem Satz: "Theorie ohne Empirie ist leer. Empirie ohne Theorie ist blind!" wird seine Lösung deutlich und bleibt in ihren Grundzügen auch heute aktuell (wenn auch viele neue Ansätze des Denkens nach Kant hinzugekommen sind):

a)Rationales Nachdenken ohne das Anbindenwollen an unsere Sinneserfahrungen ist sinnlos! Allerdings kann es sein, dass wir Theorien finden, die sich (noch) nicht ohne Weiteres an Empirie anbinden lassen. Aber das menschliche Bestreben muss sein, dieses zu wollen. Sonst bleibt dieses Denken leer. - Für die christliche Theologie heißt das heute: Gott ist nicht empirisch! Aber das Nachdenken darüber, wer Gott ist, ist wichtig; sonst sollte man über das Thema lieber schweigen. Was bedeutet es, über Gottes Allmacht zu "schwadronieren", wenn nicht zugleich gefragt wird, warum er nicht eingreift? Kant, der wohl durchaus religiös war, hält Gott wegen seiner fehlenden empirischen Fassbarkeit bewusst aus allen ethischen Problemen heraus. Allein das eigene Gewissen, gespeist aus der rationalen Reflexion, ist für Kant maßgeblich! Davon könnten Christen lernen, ohne Gott damit zu verraten... - Kant würde angesichts von "Corona" sicherlich empfehlen, alles Nachdenken auf eine Lösung des Problems zu konzentrieren und sich nicht von pseudoreligiösen Deutungen irritieren zu lassen.

b) Sinneserfahrungen ohne rationale Reflexion sind sogar gefährlich! Deshalb ist es notwendig, wissenschaftlich zu denken. Wo immer es geht, versucht z.B. die Medizin empirische Forschungsergebnisse zu überdenken und ethisch zu überprüfen. Das geht nur mit kühlem Kopf ohne emotionale und/oder gar religiöse Verkürzung. Kant hält das Nachdenken darüber, was zu tun ist, in allererster Linie für eine Gesinnungs- bzw. Absichtsfrage. "Nichts ist gut als der gute Wille allein!" Damit ist aber nicht die gefühlsmäßige, sondern die reflektierte Absicht gemeint. - Für die christliche Theologie heißt das heute: Es reicht nicht, bei jeder Gelegenheit von Nächstenliebe zu predigen. Sie muss jederzeit neu reflektiert und dann auch angewendet werden. Das aber ist gar nicht so leicht, weil es nicht reicht, sich willkürlich zu entscheiden, wem man denn nun gerade helfen will. - Kant würde angesichts von "Corona" sicherlich empfehlen, nicht mit Mitleid für die besonders Gefährdeten zu argumentieren, solange nicht zugleich begründet würde, warum die täglich durch Hunger, Krieg, Klimawandel und andere Krankheiten Sterbenden nicht mindestens genauso Beachtung finden. Wer das nicht in seine Überlegungen einbezieht, hätte aus Kants Sicht keinen wirklich guten Willen.

Insofern und nicht nur in dieser aktuellen Thematik ist Kant aktueller denn je. Nachdenken und Erfahrungswelt gehören in ständiger Wechselwirkung zusammen. Christen sollten auf Gott vertrauen, aber nicht mit ihm argumentieren, sondern als Menschen ihrer spezifischen Fähigkeit folgen: Erfahrungen machen, darüber nachdenken und "vernünftig", also ethisch pflichtgemäß, handeln.